Die Ohnmachtsfragmente 1-8 sind im Zusammenhang der dritten Folge des Gespenster-Podcasts über schwierige Gefühle entstanden. Für den Podcast haben Sophie Emilie Beha, Nora Haakh, Astrid Kaminski und Seda Niğbolu Stimmen zu Situationen von Machtmissbrauchs- und Ohnmachtserlebnissen gesammelt.

Viele unserer Gespräche haben sehr sensible Themen berührt, so dass wir es zunächst offen gelassen haben, ob wir sie ganz oder in Teilen veröffentlichen. Einige Gesprächsteilnehmer*innen haben uns gebeten, ihre Identitäten nicht preiszugeben, andere haben wir bewusst nur off the record gesprochen, manchen wollten wir mehr Raum geben, als nur die Abspielzeit für einen raschen O-Ton. Daher sind begleitend zum Podcast die Fragmente 1-8 sowie Zeichnungen zu nicht benannten Situationen entstanden.
Die Ohnmachtsfragmente setzen sich aus zwei Teilen zusammen: Der erste Teil ist ein Transkript des Podcastbeitrags der psychologischen Psychotherapeutin und Juristin Giulietta Tibone, die in München eine Arbeitsgemeinschaft an der Bayerischen Theaterakademie berät; die Fragmente 2-8 sind Zusammenfassungen von Gesprächen über Macht und Ohnmacht mit Menschen, die im Bereich der Darstellenden Künste arbeiten. Von allen Gesprächspartner:innen, auch jenen, die wir anonymisiert haben, wurde die Zusammenfassung der Gespräche so freigegeben wie hier veröffentlicht.




Ohnmacht — Fragment 1
 
Die psychologische Psychotherapeutin und Juristin Giulietta Tibone im Gespräch mit Seda Niğbolu über die Aufgabe der Institutionen, Wege aus der Ohnmacht und zu mehr Zivilcourage zu finden.

„Dass im künstlerischen Bereich Probleme der Machtausübung sehr häufig sind, hängt auch mit dem Wesen der künstlerischen Produktion zusammen sowie mit der Tatsache, dass die Menschen, die zum Beispiel Theaterregisseure oder Dramaturgen oder Maskenbildner sind, oft starke innere Positionen haben und auch haben müssen, um Künstler zu sein, den künstlerischen Bereich also intensiv entwickelt haben, darüber hinaus aber nicht unbedingt sehr aufgeklärt worden sind im Hinblick auf die pädagogische Tätigkeit. Und das macht es dann schwer, weg aus diesen innerlich starken Positionen zu kommen und zu reflektieren: Ich muss das anderen etwas beibringen, jedoch auf eine nicht zu sehr beherrschende Art und Weise und ohne meine Macht zu missbrauchen. Was manchmal ganz bewusst geschieht, aber – weil das in dem Kontext niemals thematisiert wurde – oft auch nicht bewusst.

Ohnmacht entsteht, wenn man in diesen Prozessen zum Beispiel der ungerechten Machtausübung oder Demütigung oder Entwertung individuell hineingerät. Wenn man in solche Prozesse hineingerät, hat man individuell zunächst einmal ein Gefühl der Herabsetzung des eigenen Wertes und auch der Ohnmacht. Damit das nicht entsteht und damit das, falls es doch entsteht, gelöst werden kann, ist es wichtig, dass man in der Institution Hilfestellungen finden kann. Diese Hilfestellungen müssen zunächst einmal vertraulich sein, so dass man über das Gefühl, was durch Ohnmacht entsteht, mit irgendjemandem sprechen kann und sich klar machen kann, dass es nicht unser eigener Fehler ist, sich ohnmächtig zu fühlen, sondern ein echtes Problem in der Realität, und das setzt voraus, dass die Institution es erlaubt, darüber zu sprechen. 

Früher war das oft so, dass die Frauen und die Männer – viel seltener, aber auch Männer – die in diese Prozessen involviert wurden, manchmal versucht haben, das anzusprechen, aber kein Echo gefunden haben. Und es gab auch gar keine Struktur, die das aufgenommen hat. Es wurde nicht reflektiert, sondern blieb dann eine einzelne Meinung. Oft ist einem gesagt worden: Du solltest das nicht weiterbetonen, sonst ist deine Karriere ruiniert. Du wirst Probleme haben usw. 

Damit diese Ohnmacht sich nicht zementiert, und die Personen sie nicht als individuelles Schicksal erleben, muss es in einer Institution also möglich sein, darüber zu reden, dass diese Dinge passieren, wie sie passieren und was jede und jeder von uns machen kann, um dagegen zu kämpfen. Außerdem ist es wichtig, dass es auch klare Wege gibt innerhalb der Institutionen, die einem sagen, wenn du diese Gefühle hast und du dir nicht sicher bist, was mit dir passiert, aber du fühlst, du bist in etwas, was dir nicht gut tut, involviert, dann besprich das mit jemandem, der das zunächst einmal nur mit dir klärt und dir vielleicht hilft, Wege zu finden, wie man daraus kommt. 

Das ist wichtig und dann, wenn diese Bedingungen erfüllt sind, werden alle Leute mehr Mut haben, sich zu äußern, wenn sie in diesen Sachen verfangen sind. Denn normalerweise das ist nicht nur Ohnmacht. Ohnmacht ist ein globales Wort. Das ist sehr richtig für dieses Gefühl, aber ich muss auch klar machen: Menschen, die Machtmissbrauch in verschiedenen Formen wie sexualisierter Gewalt, Diskriminierung, Rassismus erleiden – ich rede jetzt nicht nur von Männern und Frauen, denn das gilt natürlich auch für alle Diverse, für die es früher gar keine Bezeichnung gab – diese Leute erleben vor allem zunächst einmal ein ungerechtfertigtes Schuld- und Schamgefühl. 
 
Diese zwei Affekte, Scham und Schuld, sind typisch für traumatische Vorgänge, in denen das Opfer diese Gefühle erlebt, während die Person, die sie verursacht, dafür nicht sensibel ist. Und es ist notwendig, dass die Menschen, die das erleben, sich äußern können in einem geschützten Rahmen, und dass sie diese Mechanismen durchschauen, um die Kraft zu haben, sich zu wehren.

Das wird immer mehr geschehen, je mehr die Gesellschaft – wie jetzt mit #MeToo – darüber debattiert. Aber auch jede Institution muss diesen Weg finden  – was in vielen Theatern bereits im Gange ist. Auch gibt es nun eine zentrale Vertrauensleutestelle für die Theater und auch für den Filmbereich. Dort kommen inzwischen immer mehr Beschwerden an, weil diese Sachen, die dort vorgetragen werden, eben passiert sind. Vorab blieben sie immer im individuellen Bereich und oft wurden sie vollkommen erstickt aus Angst, aus Nichtwissen, wie man damit umgeht. Vor allem aus Angst vor den Konsequenzen.

Was wir individuell leisten können, um einen Weg hinaus zu finden: Mut ist nötig. Aber Mut wächst nur in Strukturen, die den Mut unterstützen. Und in denen Debatten über Grenzen geführt werden. Auch von der Seite derjenigen aus, die Macht haben. Es ist wichtig, zu reflektieren, dass Theaterregisseur zu sein, nicht heißt, ungehemmt Macht auszuüben, und vielleicht z. B. sexuelle Beziehungen, die mir passen, mir einzuverleiben. Das ist nicht meine Funktion als Regisseur. Meine Funktion ist es, ein gutes Stück zu produzieren. Also die Reflektion muss nicht nur auf der Ebene der Menschen, die Opfer oder Geschädigte sind, stattfinden sondern auch auf der Ebene derjenigen, die mehr Macht oder mehr Autorität haben. Dies geschieht nur, wenn in Institutionen viel mehr in Ruhe darüber gesprochen wird. Das setzt in meinen Augen auch voraus, dass man zum Beispiel Aufklärungsveranstaltungen für alle Dozierenden in einem Lehrbetrieb oder alle Angestellten, inklusive aller Leute der Gewerke, in den Theatern macht, und man darüber frei diskutieren kann. Und dass so die Leute sich gewiss werden können, was da passiert und was auch in der Vergangenheit passiert ist. Solche Vorgänge sind oft noch nicht möglich, die Strukturen noch nicht vorhanden. 

Die Leute, die beschuldigt werden, sind in manchen Fällen tatsächlich zerstörerische Persönlichkeiten, aber oft sind sie nur Menschen, die weiter so machen wie bisher, ohne reflektiert zu haben, was da passiert. Sie sind also nicht immer bösartige Menschen, sondern Menschen, die diese Reflektion nie geleistet haben  – so wie die Gesellschaft im Gesamten bis vor einigen Jahren in dieser Beziehung sehr wenig geleistet hat. 

Es ist ein langer Weg. Man muss geduldig sein und weitermachen. Diese Änderung wird nicht schnell geschehen, weil sie auf jahrtausendealten Strukturen basiert. Aber sie wird geschehen. Man muss Geduld. Klarheit und Courage haben. Alle diese Prozesse können auch beschrieben werden mit dem Ausdruck Zivilcourage auf der Ebene der Institutionen und auf der Ebene der Einzelnen. Und um Zivilcourage zu haben, muss man sie irgendwo gelernt haben. Ich bin dafür, dass Institutionen sich stark machen für das Lehren dieser Verhaltensweisen. Davon können wir alle sehr profitieren.“



© Nora Haakh / gedankenstriche.net



Ohnmacht — Fragment 2


Es gab ein Missverständnis in einer E-Mail zwischen einem Professor und mir, das eindeutig auf seinem Fehler beruhte. Er hat mich daraufhin im Flur der Hochschule vor ungefähr sieben anderen Studierenden nicht nur öffentlich zur Rede gestellt sondern auch gedemütigt. Das war ein voll beabsichtigter Affront. Er ließ dabei keine Diskussion zu, schließlich ging es nur darum, seinem Ärger genügend Luft zu machen. Außerdem war klar, dass er in dieser Situation nicht nur als ein Professor, sondern auch als Institutsleiter auftrat. Also in der Position eines Mannes, bei dem ich noch Prüfungen zu bestehen hatte, bei dem ich mich eventuell für einen weiteren Studiengang bewerben wollte, kurz: bei dem ich nicht verkacken durfte. Zumindest, wenn ich mir mein zukünftiges Studium an der Hochschule nicht verbauen wollte.

Was mir später andere Studierende gesagt haben: Er weiß, dass er so ist, ein ausgewachsener Choleriker. Und trotzdem lässt er es zu, ab und zu die Kontrolle zu verlieren. Allerdings nie zu sehr. Er bringt sich nie in Situationen, die mehr als den öffentlichen Anstand verletzen würden. Er würde nie tatsächlich physisch übergriffig werden. Die Macht seiner Hochschule droht er immer nur indirekt an – trotzdem übt er damit auf mich und andere Studierende einen enormen Druck aus. Gleichzeitig hat er diese miese Masche, am nächsten Tag anzukommen, einem die Hand hinzuhalten und so zu tun, als sei alles wieder normal.

Seit diesem Vorfall ist er bei mir absolut unten durch. Mit der Aktion hat er einfach jeglichen Respekt verspielt. Ich wollte mir seitdem nie wieder ein Konzert von ihm anhören, obwohl er ein guter, faszinierender und inspirierender Musiker ist. Manche seiner Konzerte waren eine richtige Offenbarung. Aber mir wurde klar: Wenn jemand sich absichtlich so verletzend verhält und das offensichtlich auch mit seinem Selbstbild vereinbaren kann, dann kann ich diesem Menschen auch keine pädagogische oder künstlerische Leistung mehr abnehmen.

Aufgezeichnet von Sophie Emilie Beha




© Nora Haakh / gedankenstriche.net



Ohnmacht — Fragment 3


Josefina Domin* ist 56 Jahre alt, die man ihr aber kein bisschen anmerkt. Sie strotzt vor Energie, Tatkraft und Optimismus. Als junge Frau aber war Josefina sehr schüchtern und musste ihren ganzen Mut zusammennehmen, um anderen ihre Meinungen und Emotionen zu offenbaren. Wenn der Mut fehlte, fühlte sie sich schnell ohnmächtig und in ihrer Ohnmacht richtete sie ihre Wut darüber auf ihre Gegenüber.

Heute ist ihr klar, dass sie auf sich selber hätte wütend sein müssen. Stumm zu sein, Dinge zu ertragen sei schließlich auch eine Handlung. Am schlimmsten war es für Josefina, wenn sie das Gefühl der Ohnmacht in Bezug auf ihren eigenen Körper verspürte – dann wurde sie krank.

Im Schauspiel ein No-Go. Der absolute Nullpunkt war dann erreicht, als ihr nach dem Tod ihres Vaters über längere Zeit komplett die Stimme weg blieb. Josefina war stumm, die Ohnmacht schien grenzenlos.

Mittlerweile hat sie einen anderen Umgang mit sich gefunden. Sie versucht, ihre Umstände, oder sich selbst innerhalb dieser Umstände, zu akzeptieren. Recht machen will Josefina es heute nur noch sich selbst. Das sei schließlich schwer genug.

Aufgezeichnet von Sophie Emilie Beha

*Name geändert





© Nora Haakh / gedankenstriche.net



Ohnmacht — Fragment 4


Ich habe in der Welt des Theaters als Schauspielerin viel Ohnmacht und auch viel Macht gespürt. Und das ist wahrscheinlich einer der Gründe, warum ich dieser Welt irgendwann den Rücken gekehrt habe.

Macht zu haben und zu fühlen ist eines der elementarsten Aspekte der Theaterkunst. Oft fühlen sich Schauspieler:innen von Regisseur:innen unterdrückt. Oft auf eine Art, die ich als emotionale Ausbeutung bezeichnen würde. Jedoch nicht nur von Regisseur:innen gegenüber Schauspieler:innen, sondern auch von Schauspieler:innen gegenüber sich selbst. Die Kalkulation lautet: Wie viel kann oder muss ich von mir, von meiner Seele, von meinem Körper, von meinem Verstand, von meinem Selbstwertgefühl opfern? Im Gegenzug bekomme ich für diese Selbstausbeute im besten Fall Achtung oder Verehrung zurück, dann hat es sich gelohnt.

Wenn ich mich in die Rolle von Regisseur:innen hineinversetze, die Schauspieler:innen dazu gedrängt haben, extreme Dinge preiszugeben, extrem verletzlich zu sein und das dann ausgebeutet haben; im Gegenzug aber von den Schauspieler*innen Wertschätzung erhalten haben – dann lautet die Kalkulation ähnlich: Es hat sich gelohnt, ich würde es vermutlich nochmal tun.

Das ist ein Paradox in der Theaterwelt. Künstler:innen wollen gerne verletzlich sein und aus ihrer Komfortzone herauskommen. Aber wo ist die Grenze zwischen dem einvernehmlich Herausbegeben und dem Zuviel, der Ausbeutung? Über diese Grauzone wird nicht genügend gesprochen.

Wenn jemand verletzlich vor mir steht, dann habe ich sofort Macht über diese Person. Und die nicht auszubeuten, das ist Verantwortung. Diese Verantwortung kann und will nicht jeder und jede übernehmen. 

Aufgezeichnet von Sophie Emilie Beha






© Nora Haakh / gedankenstriche.net



Ohnmacht — Fragment 5


Es mag seltsam klingen, aber ich habe mich wegen Johann Sebastian Bach ohnmächtig gefühlt. Ich hatte ein Stück geübt, Präludium und Fuge in D-Dur, BWV 532. Bis dahin hatte ich schon viele schwierige Stücke bewältigt, aber dieses hat mich wirklich die allergrößte intellektuelle und emotionale Anstrengung gekostet. Ich habe es einfach nicht hinbekommen. Dabei liebte ich dieses Stück. Ich liebe es immer noch. Und ich wollte es unbedingt spielen. Aber ich habe es geistig nicht hinbekommen, es über einen längeren Zeitraum zu üben, weil jedes Mal mein Gehirn einfach komplett weg war. Das war kein kognitives Problem – ich hatte das Stück verstanden, konnte es durchanalysieren, sagen, wie Bach die einzelnen Elemente miteinander kombiniert, was er auf welche Art und Weise verändert. Aber ich konnte es nicht spielen.

Es gab diesen einen Tag, an dem ich zwei Stunden lang mit diesem Stück gekämpft habe. Ohne Erfolg. Ich war komplett leer. Ich habe mich dann in ein Café gesetzt, einen Tee gekauft und so lange in das Glas hineingestarrt, bis der Tee kalt war. Das waren mindestens 20 Minuten. Mein Gehirn war dabei wie völlig ausgeschaltet. 

Als ich aber am nächsten Tag auf der Orgelbank saß, konnte ich das Stück auf einmal spielen. Das war wirklich unglaublich. Offensichtlich waren diese enorme Anstrengung im Vorhinein und mein ausgeschaltetes Gehirn nötig. Was man daraus vielleicht ableiten kann, ist, dass man sich der Ohnmacht, auch wenn sie alles überrollt, manchmal doch hingeben können muss. Dass man sie wahrnehmen muss. Und zulassen, dass man gerade Ohnmacht fühlt. Denn genau in diesem Moment, indem man das zulässt, begrüßt oder vielleicht einfach nur geschehen lässt – da passiert etwas.

Aufgezeichnet von Sophie Emilie Beha







© Nora Haakh / gedankenstriche.net



Ohnmacht — Fragment 6
Marie Yan (Autorin, Dramaturgin)



Ohnmacht fühlt sich an wie: Alles, dessen Du Dir sicher warst, ist plötzlich weg.
Du dachtest, Du hast was, und puff! - weg. Funktioniert nicht in diesem Kontext.

Ich hatte grade so eine Situation, in der ich mich sehr ohnmächtig gefühlt habe, weil sämtliche Bezugssysteme, mit denen ich bis jetzt gearbeitet habe, nicht anwendbar waren. Momente kollektiver Ohnmacht, wenn es nicht gelingt, sich verstehen zu können, wenn man sich gegenseitig im Weg steht und nicht in der Lage ist, die anderen Perspektiven zu sehen. 

Als ich Theatermachen gelernt habe, war das stark verbunden mit diesem Mythos des demokratischen Raumes: "Wenn wir gemeinsam im Theaterraum etwas kreieren, praktizieren wir dabei eine Form von Demokratie, die sich dadurch selbst erneuert". In der Alltagsrealität ist das allerdings ziemlich häufig überhaupt nicht so, da auch im Probenraum so viele Machtstrukturen wirken. 
 
Wenn wir uns alle ohnmächtig fühlen, weil wir gegen eine Wand gerannt sind und jetzt irgendwie einen Weg finden müssen, einen Konflikt zu lösen.... sehe ich es im Moment so, dass dann wohl der einzige Weg raus aus dem Gefühl von Ohnmacht ist, sich darauf zu konzentrieren, was man gemeinsam will. Auf die geleistete Arbeit und den bereits gemeinsam zurückgelegten Weg zu vertrauen. Was ist das Problem? Wenn jemand verletzt worden ist: Was braucht diese Person, um sich mit allen Beteiligten okay fühlen zu können? Was wollen wir? Und das ist dann in der Situation vielleicht nicht, die großen gesellschaftlichen Probleme zu lösen – Ost/West, wie funktionieren Regime der Ausgrenzung jeweils spezifisch, wer hat Recht und wer hat Unrecht – sondern die Möglichkeit einen sicheren Raum zu schaffen. Das ist gewissermaßen ein Umweg, um mit dieser kollektiven Ohnmacht umzugehen, und der auch damit zu tun hat, dass die Zeit, die wir miteinander im Rahmen einer künstlerischen Produktion haben, begrenzt ist. In meinem aktuellen Projekt in Hongkong ist sie besonders begrenzt, weil hier ein neoliberaler Kapitalismus herrscht, der aggressiver ist als alles, was ich bisher erlebt habe: Kolleginnen haben Arbeitstreffen bis 2 Uhr nachts, um über die Runden zu kommen, das ist ganz normal.

Wenn ich in Bezug auf Institutionen über das Verhältnis von Macht und Ohnmacht nachdenke, dann fällt mir auf, dass die Machtmittel von Institutionen nicht nur darin liegen, Dinge zu ermöglichen oder durchzusetzen, sondern oft auch darin, nichts zu tun. Viele der Funktionsweisen von Institutionen tragen dazu bei, dass Dinge nichtpassieren. All die Sitzungen und Treffen ohne Ergebnis. Die nicht beantworteten E-Mails. Die Fragen, die an eine andere Person weitergeleitet werden, die dann aber auch nicht zuständig ist. So gesehen ist Ohnmacht das: Ich bin auf eine Handlung von dir angewiesen, du tust aber nichts, und alles bleibt stecken. Die Institution kontrolliert die Zeit.

Aufgezeichnet von Nora Haakh


Für aktuelle Projekte von Marie Yan:
︎ @dialoguesoo.hk
︎ www.marieyan.com





© Nora Haakh / gedankenstriche.net



Ohnmacht — Fragment 7
Iury Salustiano Trojaborg (interdisziplinärer Künstler)



Where I feel Ohnmacht in my body I think has changed over the years.

I've been living in Germany now for over 12 years and I've been constantly experiencing it...

I like the name, ghosts, it's a wonderful description, because for me it has a lot to do with invisibility. Quite often I feel invisible here, as if people are not seeing me or listening to me, so this repetition, this constant sensation of feeling like a ghost, changed over the years. I think in the beginning I was a lot in my head because I couldn't understand it, I couldn't believe it – so I was questioning in my head: is this really happening? I was doubting myself, and over the years I think it went down to my heart maybe and to my stomach because then I understood: Yes. My head understood that this is happening and then the other organs such as my heart and my stomach got squeezed and felt sick and not well because I had learned: Ah, this is the structure, the structure works like this, the structure is made to make us feel invisible.

There is this standardisation: When Europe is put at the center, anything coming out of Europe is seen as other, as less. I have a sensation that kindness is quite often confused with stupidity here. I'm not saying German people are not kind, but I have friends here from many places out of Germany, out of Europe, and their sensation is similar: When we come into a new territory we usually try to be kind in the sense of: I'm trying to accept what is coming, to be thankful and open to the exchange, in my case always with a smile. Often this kindness is taken as stupidity, as if we wouldn’t have anything to say, we wouldn’t have the necessary knowledge...

I'm here to do what I do not only for myself but also for a group of people who suffer from the same. With my studies and professional experience as a theatre maker and also by the means of my life practice, I am bringing a lot: I have lived in 12 cities. I have had to invent and reinvent myself over and over again. What helps for me is to focus on kindness and the kind of working environments that are build on kindness. 

Aufgezeichnet von Nora Haakh





© Nora Haakh / gedankenstriche.net



Ohnmacht — Fragment 8
Natalie Riedelsheimer (Tänzerin)



Ohnmacht assoziiere ich mit einem Gefühl von Lähmung, von Lustlosigkeit und Energielosigkeit, die die Grundkörperspannung nach unten abfallen lässt. Spontan würde ich sagen, es hat was mit den Händen zu tun, die ja eigentlich unser Handlungswerkzeug sind, um in der Welt zu agieren, zu kreieren, zu kommunizieren, die an Bedeutung, Kraft und Mobilität verlieren. Eine sehr schlaffe Körperhaltung. Sehr schwer. Ohne Orientierung, ohne Richtung im Raum.

Als Frau in unserer Gesellschaft ist der eigene Status oder die Erfahrung, wieviel Raum man kriegt, nach wie vor der Willkür eines männlichen Blicks ausgeliefert: Was ist Wissen? Was ist Körper? Was ist Schönheit? Was ist stark? Was ist relevant und was nicht?

Weil Tanz so körperbezogen ist, empfinde ich diese Art der Konvention im Tanz als extrem stark. Dieses Auditioning, dieser Wettstreit, dem man ausgeliefert ist. Und das Muttersein ist darin immer noch etwas, was schlicht nicht existiert oder nicht existieren kann. Wie halt unsere Gesellschaft, unser Produktionsdenken, so ist: alles muss möglichst schnell, möglichst groß, möglichst stark, möglichst jung, möglichst flexibel, möglichst anpassungsfähig, möglichst viel und lange einsetzbar sein. Diese gesellschaftliche Prägung drückt sich in der Tanzpraxis extrem stark durch und der Verschleiß, sowohl psychisch als auch physisch, ist sehr hoch – meiner Beobachtung nach für Frauen, weil der Druck höher ist, nochmal mehr als für Männer. Da ist Grupo Oito schon so etwas wie ein Schutzraum für mich.

Ein Hauptthema der Tanzcompanie Grupo Oito, mit denen ich seit 12 Jahren arbeite, ist Widerstand und Widerstandsfähigkeit. Wie viel kann der Körper aushalten? Wo sind meine Grenzen? Wie kann ich meine Grenzen kommunizieren? Sind die wirklich da oder wie weit kann ich gehen? Für das Stück "Part of you" haben wir viel mit der Erfahrung gearbeitet, eingeschränkt zu sein. Wie fühlt sich das an und was für eine Energie wird dabei im Körper generiert?

Irgendwann gibt es den Punkt, wo es anfängt, ernst zu werden, wenn man immer wieder meint, man hat es geschafft und dann kriegt man es doch nicht hin. Durch die Frustration kommt viel Wut, durch die Wut aber auch viel Energie, und... irgendwann kommt ein bisschen Panik mit rein, wenn man das Gefühl hat, es gibt wirklich keinen Ausweg. Dann muss man im Kopf irgendwie psychologisch was drehen. Also, wenn man nicht mehr wirklich atmen kann. Das Gefühl von Ohnmacht entsteht ja meistens durch eine – sei es physische oder psychische – externe Krafteinwirkung oder Grenzsetzung oder Mauer oder was auch immer, was einen irgendwie innerlich so komplett schwächen kann. Wenn man dann das Gefühl hat, aufgeben zu wollen, nicht mehr zu können, braucht man eine Rückbesinnung. Nicht auf die äußere Kraft, die dir sagt, du darfst nicht, du kannst nicht, sondern eine Innenschau: Ich kann's doch, ich weiß, dass ich es kann. Daraus kommt dann eine neue Energie, die bereit ist, weiter zu machen oder eine neue Lösung zu finden. Dann gilt es ruhig zu atmen und wenn es viele Restriktionen gibt, nicht nur zu gucken, wo es nicht geht, sondern zu gucken, wo es geht und dort weiter zu machen.

Aufgezeichnet von Nora Haakh


Die Präsentation des Textes wurde mitermöglicht durch:





© Nora Haakh / gedankenstriche.net