von Marita Tatari

Wer Jean-Luc Nancy kannte, hat die außergewöhnliche Kraft eines der Gegenwart gewidmeten Denkens in actu erlebt: Es handelte sich bei seinem Denken um eine Widmung, eine Hingabe. Die Anbetung, wie eines seiner Bücher heißt, war tatsächlich seine philosophische Haltung.

Jean-Luc Nancy hat über die Jahre nicht aufgehört, der Gegenwart entgegenzukommen und uns ein Bewusstsein für unsere Zeit zu vermitteln. Einer Zeit, die sich immer weniger in Begriffe fassen lässt. Er hat uns also ein Bewusstsein von ihr vermittelt, das dessen Unwissen und dessen Endlichkeit zustimmt, und zwar genau an dem Ort, an dem es für uns entsteht: mitten in der Gegenwart. Präsenz einer Öffnung, ein er Einbruchstelle oder „eines Sichspalts des ‚Hier’“.

Sich der Öffnung des „Hier“ hinzugeben, und genau da sich selbst aufzugeben: Öffnung einer Zeit und eines Raums, Trieb oder Bezug, die über sich selbst hinaus zu anderen weitertreiben. Intensität, die zwischen den Körpern geschieht. Berühren: Jean-Luc Nancy hieß das Buch, das Derrida für ihn schrieb. „Berühren“, und noch mehr „Bezug“, bezeichnen vielleicht Nancys grundphilosophisches Anliegen. Den stattfindenden Bezug denkt Jean-Luc Nancy als etwas an und für sich Würdiges: als einen Wert, der sich in keine Äquivalenz übersetzen lässt. Ein Unermessliches, Unendliches, das nicht außerhalb der Welt, sondern selbst mitten in der die Welt durchherrschenden allgemeinen Äquivalenz des Geldes geschieht. Ein solcher absoluter Wert heißt Sinn. So hatte er sich dem Sinn und damit auch der Philosophie als etwas Sinnlichem gewidmet: Der Sinn als jeweils singuläre, irreduzible Aktualität eines Bezugs, einer Resonanz, eines Verkehrs; der Sinn als etwas, das wir schon in unserer Alltagspraxis kennen und sind.

„Wer denkt, antwortet.“: Kein Wunder, dass sich sein Denken in zahlreichen Gesprächen und in der Nähe der Künste entfaltete. Noch einen Monat vor seinem Tod hatte er in meinem Seminar an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart über Präsenz und Improvisation gesprochen. Präsenz und Improvisation sei vielleicht eine Tautologie. Eine Präsenz sei nie einfach da. Sie komme an, etwas trete auf. Ein Ankommen geschehe aus einer Distanz heraus und finde zwischen den Körpern als Berühren statt. Improvisieren sei die Erfindung eines bestimmten Berührens. Ich erinnere mich, mit welchem Nachdruck er trotz seiner sichtbaren Schwäche am Ende seines Lebens sagte, dass jedes Werk eine Improvisation sei. Eine Performance sei genauso wie jedes Kunstwerk ein Werk. Und ein Werk sei nie eine Gegebenheit. Es sei ein unerschöpfliches Ankommen.

Nancy hat ausgiebig über alle Künste geschrieben. Zur Malerei. Aber auch zum Film, zum Tanz, zur Musik. Er kuratierte die Ausstellung „Die Lust an der Zeichnung“ am Museum für die schönen Künste von Lyon, spielte in einigen Filmen und arbeitete in engem Austausch mit zahlreichen Künstler*innen, wovon auch die vielen veröffentlichten Gespräche zeugen, so zum Beispiel seine Korrespondenz mit der Choreographin Mathilde Monnier. Sein Denken, neugierig, nährte sich vom Austausch.

Sein eindrucksvoller Text Corpus, geschrieben Anfang der neunziger Jahre, stellte die räumliche Ausdehnung der Körper absolut in den Vordergrund: Er beschrieb die Seele als Körper, den Geist als Körper, die Entfaltung des Innen als Außen, und dessen Takt als Tanz. Auch mit der Sammlung Ausdehnung der Seele – Texte zu Körper, Kunst und Tanz, wurde Nancy im Bereich der darstellenden Künste breit rezipiert. Die Besonderheit seiner Sicht auf das Theater lässt sich vielleicht gut vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit seinem engen Freund und Kollegen Philippe Lacoue-Labarthe erkennen, so zum Beispiel in Dialog über den Dialog.

Lacoue-Labarthes Grundthema waren die Paradoxien der Mimesis und die Abgründe der Darstellung. Ihm ging es im Theater vor allem um den gesprochenen Text. Nancy hingegen interessierte sich vielmehr für die Präsenz der Körper und für diese Präsenz als Adressierung eines Publikums, Verräumlichung eines frei entspringenden Bezugs. Theater-körper beschreibt die existentielle Vorgänglichkeit des Bezugs. Er beschreibt unsere Existenz als Bühne, auf der das „Ich“, von jeder Substanz entleert, in der Welt auftritt und sich als die bloße Praxis eines Mit-Anderen-Seins erweist. Dementsprechend wäre das Theater weder nur die Entfaltung eines Bezugs zwischen den Darsteller*innen, noch nur die zwischen Publikum und Bühne, sondern das Hervortreten des Bezugs, der wir mit-sind, als solcher: ein Stattfinden des Gemeinsamen.   

Im Grunde genommen geht es im ganzen Werk von Jean-Luc Nancy um das Gemeinsame. 1986 hatte ihn Von einer Gemeinschaft, die sich nicht verwirklicht bekannt gemacht. Er setzte damit ein Thema von u.a. Georges Bataille und Maurice Blanchot fort. Nach den Katastrophen der Totalitarismen und dem Scheitern der Utopien schien eine Dekonstruktion der Schemata, die das zwanzigste Jahrhundert prägten, nötig: eine Gemeinschaft, die nie gerinnt und offen bleibt in ihrem Ankommen, offen hin zur Alterität; Eine an-archische Gemeinschaft, deren Arche nie gegeben ist.

Das 21. Jahrhundert brachte tiefe Transformationen mit sich. Die herkömmlichen Weisen, den Sinn, die Politik, die Künste zu denken, schienen nicht mehr zuzutreffen. Schon in den neunziger Jahren ging Nancy mit singulär plural sein über die Dekonstruktion im Sinne Derridas hinaus. Er hat damit etwas vom Geist des neuen Jahrhunderts getroffen. Statt um das, was sich in der Gemeinschaft entzieht, ging es ihm nun vielmehr darum, das Gemeinsame – den Sinn – als singuläre Wirklichkeit des Bezugs zu denken: weder als Horizont noch als eine alles umfassende Sphäre, sondern als ein „Mit“, das jede*r einzelne, indem sie*er existiert, jeweils ist. Sein Schwerpunkt verlegte sich von der (nicht)-Verwirklichung der Gemeinschaft zur Wirklichkeit des Bezugs. Diese Verschiebung und seine Auseinandersetzung mit der Problematik der Gemeinschaft beschreibt er in Die verleugnete Gemeinschaft, aber auch in Die Wahrheit der Demokratie.

Genau diese Verschiebung machte sein Denken für die Medienphilosophie interessant. Statt um Dekonstruktion ging es ihm um eine „Struktion“: um den Sinn als Entfaltung von Bezügen, die jeweils Zusammenhänge bilden, welche Seiende, bzw. Elemente, immer neu formen. Entfaltung, die er auch als „ursprüngliche Technizität des Sinns“ bezeichnete. Die „Ontologie in der Technologie“ stünde so gesehen für eine Technonatur oder auch manch neu entworfene Technoökologie. Auch für die Darstellenden Künste wurde in der Zeit nach dem postdramatischen Theater diese Wende jenseits der Dekonstruktion  wiederum fruchtbar.

So half Nancy, die Raumwende der darstellenden Künste Anfang des 21. Jahrhunderts zu verstehen und zu beschreiben. Es ging nicht mehr darum, die Eigenschaften des dramatischen Theaters zu sprengen. Die räumliche Entfaltung der Geste, des Sprechens gewann an Bedeutung, und damit auch die Transitivität der Körper, der Durchgang des Sinnlichen, die primäre Pluralität eines Chors - denn kein*e Einzelne*r ist allein und dem*r Protagonist*in geht ein Chor voraus.

Das Gleiten jenseits der Selbstverwirklichung schwang in der Lebens- und Affektphilosophie eines Michel Henry oder selbst eines Bergson und eines Deleuze mit, zugleich aber bestand Nancy auf die endliche Transzendenz: die Öffnung des Hier. Für diese Öffnung, meinte er, sei ein Denken der Distanz nötig. Erst aus einer Distanz heraus tritt die Entfaltung eines Bezugs hervor. Denn ohne Distanz ist kein Bezug. Theater als Kunst des Bezugs 1 bzw. 2 ist der Name von zwei kleinen Texten – Transkriptionen eines Vortrags und eines Gesprächs zum Theater, die aus dieser Perspektive zurück zum antiken Theater und von dort aus zur Gegenwart blicken. Brecht nannte diese Distanz Verfremdung. In der Tragödie sei sie der Tod.

In dem sehr persönlichen Buch Der Eindringling sprach Nancy von seiner Herz-Transplantation und damit vom Fremden im Eigenen, vom Eigenen als Bezug auf die Anderen. „Befremdliche Fremdkörper“, nannte er es in einem anderen Text: Die Kunst sei Fremdheit und diese stehe für die immer wieder neu zu erfindende Pluralität der Künste. Jean-Luc Nancy, der selbst in nihilistischen Zeiten die Fülle des Sinns hier und jetzt bejahte, sagte zu den Studierenden im Juli: „Es ist heute ganz dunkel. Die Augen offen halten ins Dunkle. Nicht wissen, was kommt, und dieses Unwissen aushalten. Improvisieren.“

Ich schaue während des Schreibens auf ein Foto von einem gemeinsamen Ausflug in Griechenland: Jean-Luc in Epidaurus im Februar 2015. Er sitzt auf der Tribüne des antiken Amphitheaters. Neben ihm ein Hund. Um ihn die Klarheit des Lichts. Nun ist Jean-Luc Nancy, der fast dreißig Jahre lang mit einem fremden Herz gelebt hat, von uns gegangen.

Salut, Jean-Luc

Danke



Zitierte Werke:

„Alliterationen“, „Befremdlichhe Fremdkörper“, in:Ausdehnung der Seele – Texte zu Körper, Kunst und Tanz, diaphanes 2009

Corpus, diaphanes 2003

Der Eindringling – Das fremde Herz, Merve 2000

„Dialog über den Dialog“, mit Philippe Lacoue-Labarthe, in: Müller-Schöll (Hg.), Politik der Vorstellung, Theater der Zeit 2008

Die Anbetung - Dekonstruktion des Christentums 2, diaphanes 2012

Die verleugnete Gemeinschaft, diaphanes 2016

„Theater-Körper“, in: Körper, Passagen 2019

„Ontologie in der Technologie“, in: Die fragile Haut der Welt, diaphanes 2021

„Theater als Kunst des Bezugs 1“, „Theater als Kunst des Bezugs 2“, in: Tatari (Hg.), Orte des Unermesslichen – Theater nach der Geschichtsteleologie, diaphanes 2014

singulär plural sein, diaphanes 2004

„Von der Struktion“, in: Hörl (Hsg.), Die technologische Bedingung, Suhrkamp 2011

Von einer Gemeinschaft, die sich nicht verwirklicht, diaphanes 2018

Wahrheit der Demokratie, Passagen 2008

Jacques Derrida, Berühren: Jean-Luc Nancy, Brinkmann und Bose 2007


Foto: Marita Tatari

Dieser Text wurde mitermöglicht durch:
Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Programm NEUSTART KULTUR, Hilfsprogramm DIS-TANZEN des Dachverband Tanz Deutschland.